„EIN GLÜCKLICHER MENSCH“ –

Künstlerische Welten aus Papier von ALMYRA WEIGEL

 

Ausstellung: 13.05.-30.06.2018

Eröffnung: 12. Mai 2018 17-21 Uhr 

Finissage: 30. Juni. 2018 16-21 Uhr

 

 

 

Galerie Kult Art

 

Hindenburgdamm 12, 12203 Berlin

 

PRESSETEXT

Aus feierlichem Anlass der 100-jährigen Unabhängigkeit Litauens präsentiert die deutsch-litauische Künstlerin Almyra Weigel in der Villa Kult ihre Ausstellung unter dem Titel "Ein glücklicher Mensch". Titelgebend ist eine Neuausgabe litauischer Märchen in der deutschen Übersetzung von Irena Ülkekul, die 2017 im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.

Die Suche nach dem Glück beschäftigt die Menschen seit Urzeiten. Und doch ist das Thema aktueller denn je. Ratgeber dazu sprießen wie Pilze aus dem Boden. Zeitschriften und Magazinen übertreffen sich in ihren jeweiligen Empfehlungen für das ganz persönliche Glück. Gerade in einem Zeitalter der zunehmenden Individualisierung scheint die innere Zufriedenheit in weite Ferne gerückt. Und doch ist der Wunsch danach tief in unserem Leben verankert. Wie in den Märchen möchten wir möglichst lange und gesund bis ins hohe Alter leben. Aber wie lautet die goldene Formel, um wirklich glücklich zu sein? Gibt es diese überhaupt? Unzählige Umfragen und wissenschaftliche Studien analysieren und definieren unermüdlich den Zustand des Glücks. Ähnlich zuvor haben bereits die alten Volksmärchen versucht, mit scheinbar simplen und doch treffenden Wahrheiten das menschliche Glück zu beschreiben. Ihre Erzählungen erfüllen eine wichtige psychologische Funktion, indem sie die soziale Ordnung kritisch hinterfragen und damit die Unabhängigkeit des einzelnen Menschen gegenüber materiellen Reichtümern und äußerlichen Dingen betonen. Daran anknüpfend richtet Almyra Weigel in ihrer Ausstellung den Blick auf die heutige Gesellschaft und thematisiert unter anderen den Aspekt des medienbeeinflussten Strebens nach dem Glück. Ihr Interesse gilt der Presse, dem Fernsehen und nicht zuletzt dem Internet als zentrale Meinungsmacher und Apologeten einer neuen Zufriedenheits- und Schönheitsdiktatur.

In "Schöne Menschen I und II" collagiert Almyra Weigel farbige Zeitungsabbildungen aus diversen litauischen Bildmagazinen ähnlich einem Diptychon zu einem bunten Mosaik. Menschen am Strand, mit Kindern auf dem Arm, im Sonnenschein, verliebte, lachende, schöne, elegante und prominente Personen - ein mediales Potpourri des Glücks. Im nahgerückten Ausschnitt wirken die Abbildungen wie im Moment gefangen, spontan und schnell aufgenommen, versehen mit einer Aura des Authentischen, wie man sie von Polaroidfotos kennt. Der schöne Schein, die Leichtigkeit des Seins ist jedoch in diesen beiden Werken zerkratzt, wirft Falten, zur Vergänglichkeit verdammt. Der Betrachter sieht auf die Leinwand gleich einer seit Jahrhunderten verwitterten Wandmalerei. Die Essenz des Glücks, sie erscheint hier brüchig und ewig, alt und neu zugleich.

Wie gerne wir unsere Wahrnehmung der Welt auf ein reines Schwarz-Weiß-Denken reduzieren, verdeutlicht dagegen das Werk "In der Westregion regnerisch". Hier wird der sensationslustige und dramatische Tenor der Bild-Zeitung ironisch-kritisch paraphrasiert. Mehrere Schichten schwarzen und weißen Garns überlagern die farbigen Abbildungen der ausgefalteten Zeitungsseiten und machen damit die apokalyptische Grundhaltung dieser Zeitung umso deutlicher sichtbar. Eine weitere Arbeit Almyra Weigels setzt sich mit dem Inhalt der litauischen Zeitschrift "Žmonės" - vergleichbar der deutschen "Gala" - auseinander. Hier verwendet sie vor allem die Fotos hauptsächlich junger und schöner Menschen, reißt diese aus der Zeitung heraus, klebt sie auf einem festen Hintergrund auf und umwickelt diesen mit einem dreidimensionalen Raster aus Fäden. Schritt für Schritt entsteht im Wechsel und in der Verknüpfung der Materialien ein räumlich vielschichtiges und dreidimensionales Bild. Um die Vergänglichkeit der so eingefassten Porträts weiter auf die Spitze zu treiben, ist dessen gesamte Oberfläche von einem Geflecht weißer Fäden durchzogen, das wie das feinmaschige Myzel eines Pilzes die Abbildungen der einzelnen Personen überwuchert und zum Teil verdeckt. Ähnlich kritisch-symbolisch sind ihre Arbeiten aus gesponnenen Papierfäden diverser Zeitungen. Ob "Spiegel", "Ekonomika Lt.", "Time" oder "Mickey Mouse Magazine",  Almyra Weigel versinnbildlicht uns mit den Werken "Nachrichten aus zweiter Hand", "Die Geschwindigkeit: 25 m/h", "Wiedergeburt" oder "Vergangenheit und Zukunft", dass Nachrichten und Informationen ein starkes Gewebe bilden, das unsere Gesellschaft nicht nur stilvoll kleidet, sondern regelrecht umgarnt und damit gedanklich und mental prägt.

Von der Auseinandersetzung mit der Kleidung als Teil der Identität, Tradition und Kultur einer Gesellschaft zeugt eine frühe Arbeit der Künstlerin "Großmutters Erbe", die eine Neuinterpretation der traditionellen Schürze darstellt. Diese südlitauische Tracht mit Tulpenmotiven des 19. Jahrhunderts aus mehrfarbigen Fäden gewebt, diente einst als Schutz für den Körper und die Seele jeder Frau. Wie in dem eingangs erwähnten Märchen "Ein glücklicher Mensch" ist es hier ebenfalls ein Gewand, das seinem Träger Zufriedenheit verleiht. Und so ist und bleibt der Faden für Almyra Weigel das Schicksalssymbol, aus dem nicht nur das Leben und ihre Kunst gewebt wird – sondern eben auch das individuelle Glück eines jeden Menschen. (Sabina Mlodzianowski)



Jürgen Thorwald. Das Ende an der Elbe 

Das zentrale Thema von Almyra Weigels Kunst ist die mediale Darstellung des menschlichen Wissens und der Geschichte. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Zeit als Ausdruck der Vergänglichkeit und permanenten Veränderung und Wandlung. Hierfür verwendet sie alltägliches Zeitungspapier und andere Druckerzeugnisse, um diese in vielschichtige Text-Bild-Montagen zu transformieren. Anlass und Namensgeber für ihre jüngste Arbeit ist ein Zufallsfund in einem Neuköllner Treppenhaus: Jürgen Thorwalds populäres Geschichtsbuch „Das Ende an der Elbe. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Osten“, das 1950 als Folgeband von „Es begann an der Weichsel. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“ im Verlag Steingrüben publiziert worden ist und 1965 mit diesem unter dem Titel „Die große Flucht“ gemeinsam editiert wurde. Laut einem Artikel der Zeit aus dem Jahr 2010 dürfte es wohl „eins der bekanntesten und wirkungsmächtigsten deutschen Sachbücher zur Zeitgeschichte sein“ mit einer geschätzten Gesamtauflage von über einer halben Millionen Exemplaren.

Für ihre Installation nimmt Almyra Weigel buchstäblich die Seiten des ausrangierten Buches auseinander und setzt sie in einen übergeordneten künstlerischen Kontext. Hierfür trennt sie die ergreifenden und zum Teil drastischen Dokumentarfotos von den schriftlichen Berichten und arrangiert diese neu. Die Doppelseiten mit den Schwarz-Weiß-Illustrationen sind flächenfüllend mit einem weißen Fadenraster umgarnt, das als Hintergrund für Wolkenformationen aus neongrünen Fäden dient. Der Textteil der vier Buchkapitel  ist in Papierstreifen zerschnitten und hängt in dicken Trauben wie die Äste einer Weide von der Decke. Konservierte Erinnerung und Erfahrung der Buchvorlage sind somit nur noch als zeitliche und räumliche Fragmente erfahrbar. Dessen erzählte Geschichte verdichtet sich zu einer Collage aus einzelnen, isolierten Wörtern, die ihren ehemaligen sprachlichen und historischen Zusammenhang verloren haben, überformt von einem Gespinst aus Fäden und möglichen künstlerischen Assoziationen. Dieser Verfremdungseffekt wird durch die in der Ausstellung erklingende Stimme eines Vorlesers verstärkt, der einzelne Passagen des Buches von hinten nach vorne rezitiert. Im Loop der Tonspur verliert sich der Blick auf und in die Vergangenheit endgültig im Dickicht einer nur noch vereinzelt verständlichen Sprache.

Almyra Weigel geht es hierbei nicht um das Auslöschen der erlebten Geschichte, vielmehr um dessen temporäre und situative Wahrnehmung. Das gefundene Buch wird zum Auslöser für eine poetische Bildinszenierung rund um das Thema des Krieges und dem damit verbundenen menschlichen Leid, das fortwährend unser Weltgeschehen medial und real bestimmt. Der grüne Faden dient hierbei als Hoffnungsträger und als Anregung immer wieder neu und genau hinzuschauen. (Sabina Mlodzianowski)


 

Komm in die Zeitung  

"Im Fokus der neuesten Arbeit von Almyra Weigel steht das Medium Zeitung. Ob als Papierfaden oder in Form dreidimensionaler Gebilde verwandelt die Künstlerin Zeitungspapier zum sinnlichen Kunstobjekt und richtet zugleich einen gesellschaftskritischen Blick auf die heutige Nachrichtenwelt. So präsentiert sich die Installation „Komm in die Zeitung“ als eine gigantomanische Informationsflut, die den Raum überwuchert und in ihrer Art an künstlich geschaffene Felswände von Gartengrotten erinnert. Die reale Presselandschaft wird damit als eine konkrete Umgebung erfahrbar, deren gedruckten Sätze, Zahlen und Bilder ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Angesichts dieser schieren Menge an unlesbarem Papier wird das Dilemma des einzelnen Menschen innerhalb einer stetig wachsenden globalen Kommunikation unmittelbar offensichtlich. Er droht buchstäblich im Chaos des täglichen Meinungspluralismus zu versinken. Wie kann er sich gegen diese flächengreifende Eroberung seines Lebensraums durch die massive Bild- und Wortrhetorik der Massenmedien effektiv wehren? Wie kann er seinen Worten und persönlichen Gedanken die notwendige Aufmerksamkeit verschaffen? Ganz im Sinne der „Presse als Volksstimme“ fordert uns die Künstlerin deshalb auf: „Komm in die Zeitung“ und kommuniziere." (Sabina Mlodzianowski)



Zeitungen und andere Fäden

„Ihre Bilder wirken wie die Schnittstelle zweier Welten - die der Massemedien und die des Individuums. Im Grunde begegnen sich hier zwei Geschwindigkeiten: die des schnellen, stetigen Nachrichtenflusses aus den Zeitungen und die der langsamen, fast archaischen Geste des manuellen Garnwickelns. Beide, seien es die Fäden der Information, die permanent das Leben und die Welt zu neuen Geschichten verweben, oder die Garnfäden, aus denen unsere Kleidung besteht, beide symbolisieren eine kulturelle Verbindung, ein soziales Geflecht.“ (Sabina Mlodzianowski)

 

Almyra Weigels Arbeiten bestechen durch ihre komplexe Verflechtung von Textil, Text und Textur. Für ihre neuesten Werke fertigt die Künstlerin aus aufgesammelten Zeitungen Papiergarn, das in seinem Kern noch die ursprünglich gedruckte Information enthält. Dieses verarbeitet sie zu abstrakten Bilden, deren Struktur an gewebte, verknotete oder geflochtene Stoffe erinnert. Als einzelne Leinwand oder im gemeinsamen Arrangement reflektieren diese Bilder unsere aktuelle Medienlandschaft, die sich vor allem durch ihre globale Vernetzung auszeichnet. Nicht mehr die Information selbst, sondern vielmehr deren Verknüpfung untereinander zu einem dichten Knäuel von Nachrichten steht damit im Zentrum von Almyra Weigels Kunst. Anhand des roten Fadens der Ariadne fordert sie den Betrachter auf, sich seine eigene Meinung über dieses Netz von Informationen, Nachrichten und Geschichten zu bilden. Gibt es noch einen Ausweg aus diesem Labyrinth oder sind wir für immer im Fluss der Informationen gefangen? Mit dieser zentralen Frage konfrontiert Almyra Weigel ihre Betrachter und spannt damit den Bogen vom traditionellen Handwerk über moderne Textilkunst bis zu aktuellen, politischen Ereignissen. Das Ergebnis ist eine technisch subtile und inhaltlich provokante Kunst, ästhetisch, feinsinnig und von hohem stofflichem Reiz. (Sabina Mlodzianowski / Jens Meinrenken)





 

ASCENDED FROM THE WORLD OF TEXTIL

Almyra Weigel is a contemporary broad-minded artist, who has a deep understanding of both, today’s worldly problems as well as the role of traditions, memory and habits in an individual’s life. The artist is interested in the pressure fields between traditional cultural stereotypes and relentless external influences, which affect the modern man (T. Weigel).

The artist was born in Prienai, between 1987-2001 studied textile and worked in Kaunas and since 2001 lives and works in Berlin. After leaving Lithuania the artist has successfully integrated into the Western art field. She participates in important group exhibitions, holds personal exhibitions and leads creative workshops. Almyra Weigel also works as exhibition curator, organises Lithuanian textile art presentations (Dortmund - 2009, Berlin - 2005, 2008, Salzburg - 2000). Her organisational activities are especially valuable to the promotion of Lithuanian textile art.

Artistic description. Almyra Weigel together with Laima Oržekauskienė, Vita Gelūnienė, Lina Jonikė, Loreta Švaikauskienė, Monika Grašienė, Inga Likšaitė and others belong to the generation of textile artists, who at the beginning of 21st century brought creative elation and international recognition to the Lithuanian professional textile art. These artists have significantly changed the concept of textile by refuting the title of applied art and shifting to conceptual textile. Almyra Weigel’s personal contributions include: innovative author’s technique, meaningful application of unusual non-textile materials, exploration of popular contemporary art themes such as the relationship between tradition and modernity, femininity, conceptual textile pieces enriched with emancipation. Her earlier object-based works can be interpreted as elegant and melancholic textile novels about women (From the apron series: bride, hairdresser, housewife, 2005). Since 2010 the artist has progressed onto the problems of communication, understood in terms of a thread, yarn or line connecting people, countries, friends or thoughts. The matter of communication or interaction with the world for the artist who constantly travels between Lithuania and Germany is no less important than the previous theme of searching for woman’s identity.

Personal memories, Lithuanian folk traditions and textile art experiences continue to be important sources of creative inspiration, however life abroad has significantly changed the artist’s thought processes. Today Almyra Weigel’s art is conceptual and global, transcending the boundaries of textile. In this exhibition Almyra Weigel is presented as a contemporary artist, boldly interpreting global reality. The main themes of her work – a world covered in information and media threads, abundance of multilingual information and knowledge.

The idea of the Newspapers Works was born out of looking at details of everyday life – a thread wrapped around an old piece of newspaper. Without a doubt, one had to be ascended from the world of textile in order to perceive the relationship and tension between traditional experience and the information flow born out of civilization in the link between the thread and the piece of newspaper as well as the action of wrapping. Clothes are woven from thread. The threads of information finally “weave” the story of human life. A thread is a symbol of connection. After all, the saying goes “thread of life”, “red thread of fate”, finally, Lithuanian traditional game “Threads threads, entwine” (“Siūlai siūlai, susivykit”)… Thus the media and textile are associatively brought together into one artistic fabric in Almyra Weigel’s project.

 

                                                  Prof. dr. Rasa Andriušytė Žukienė






Tradition und Innovation

Die experimentelle Textikunst der Almyra Weigel

Dr. Gabriele Vogelberg

 

Die aus der baltischen Republik Litauen (Kaunas) stammende Almyra Weigel gehört zu den herausragenden Objektkünstlerinnen ihres Landes. In ihrer Kunst verschreibt sie sich einer intensiven Befragung und Reflektion über Tradition und Moderne, indem sie das Motiv der weiblichen Schürze sowohl technisch als auch inhaltlich in seiner Vielschichtigkeit beleuchtet.   Weigel filtert nicht nur vertraute Aspekte heraus, sondern entwickelt moderne Positionen, deren ungeahnte Wirkung und innovative Aussagekraft vom Gebrauch und Einsatz des außergewöhnlichen Materials lebt. Hier entwickelt die Künstlerin ihre eigene individuelle Handschrift, die ihr weit über die Grenzen des litauischen Kunstbetriebes einen beispiellosen Rang sichert. 


Das Material


Wenngleich das Thema „Schürze“ den Gedanken an die in Litauen tief verwurzelte und traditionsreiche Textilkunst und nicht zuletzt an eine dezidiert „weibliche Kunst“ wachruft, hat sich Weigel in ihren Arbeiten doch konsequent vom Begriff der klassischen Handarbeit gelöst. Ihre Objekte entstehen weder mit der Nadel, noch benutzt sie einen Faden oder bearbeitet ein Textil. Gleichwohl ist das gestaltete Werk das Ergebnis von langwieriger und damit Geschicklichkeit voraussetzender Hand-Arbeit: ihr Werkzeug ist die Heisskleber-Pistole, deren künstlerischen und technischen Raffinessen sie zu einer wahren Meisterin auf diesem Gebiet machen[1]. Die geschmolzenen Stifte ermöglichen ihre das Arbeiten mit der „trockenen“ und der „nassen“ Methode. Je nach Zielsetzung wird der noch flüssig-heisse Kleber sofort mit weiteren Materialien verarbeitet und schließlich zum Austrocknen gelagert. Weigel benutzt alltägliche, natürliche wie synthetische Substanzen wie Gewürze, Zucker, Salz, aber auch Kaffee, Tee, Haare, Brotkrümel oder gar Staub. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den bereits getrockneten Kleber in einem zweiten Arbeitsprozess mit Farben oder Spray weiter zu verarbeiten.

Unabhängig der Wahl des Vorgehens erfordert dieses selbst entwickelte Verfahren Präzision, Geduld und eine klare künstlerische Intention. Mit der Pistole imitiert sie gekonnt den Schnitt einer Schürze, d.h. den Kittel, der den Oberkörper bis hin zu den Knien bedeckt und die Schleifen, mit deren Enden die Schürze hinter dem Rücken bzw. dem Hals gebunden wird. Mal fallen die Schürzen klein, graziös und fragil aus, mal erreichen sie fast überlebensgroße Dimensionen. Die optische Beschaffenheit des Materials erinnert angesichts seiner teils floralen, teils organischen Strukturen durchaus an Gewebe, an Häkelei, Stickerei oder Gobelinarbeiten und damit an die Disziplinen des weiblichen Traditionshandwerkes. 


Das Motiv


Damit schließt sich der Kreis zum Motiv der Schürze. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein zentrales Alltagskleidungsstück, wurde es schon seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts von Bürgerinnen nicht nur bei der Arbeit getragen. In der bäuerlichen Tracht hielt sich die Schürze bis ins 20. Jahrhundert. Vor allem in der Heimat der Künstlerin gehört die Schürze zum repräsentativen Bestandteil der litauischen Folklore und repräsentiert damit ein Stück traditionelles Leben. Die Schürze dient als zweckmäßiges Kleidungsstück, schützt vor Schmutz und Verunreinigung. Doch nicht nur vor den äußerlichen Einflüsse sollte diese schützen, sie gilt als Ausweis der Hausfrau und definiert damit ihre Arbeitsfeld von der Küche bis zum Keller. Über das Kleidungsstück werden Aspekte von Fleiss, Dienstbarkeit, letztlich Tugend transportiert. Das Wort „Schürze“ leitet sich etymologisch ab von „Schurz“ und bedeutet soviel wie Schutz, Umhüllung, aber auch Verkleidung[2]. Denn mit dem Tragen der Schürze werden nicht nur schädliche, mithin negative Einflüsse der Außenwelt abgewehrt. Zugleich betont sie um so stärker die klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, bindet diese die Frau deutlich an den (geschützten) Bereich von Haus, Küche und Garten, während der Mann in die (gefährliche) Welt hinaus muss. Was die Schürze also einerseits abgrenzt, abwendet und verhindert, das definiert und speichert sie andererseits wie einen kulturell und sozialgesellschaftliche tief verwurzelten Resonanzraum archaischer Bilder und Vorstellungen: die Schürze zwischen Stigma und Statussymbol.


Aus der Serie „Schürzen“ (2005)


Intensiv widmet sich Almyra Weigel mit verschiedenen, zumeist weiblich besetzten Berufsfeldern in der Serie „Schürzen“. Formal basieren alle Objekte auf der Grundlage der Schürze, werden jedoch entsprechend der Tätigkeit und den damit verbundenen Arbeitsspuren mit unterschiedlichen Einfärbungen sichtbar gemacht. So finden sich bei der „Friseuse“ zwischen rokokohaft geformten, an lange Haare erinnernden Wellen tatsächlich menschliche Haare, während das Modell „Hausfrau“ deutliche Spuren von Salz und Gewürzen aufweist. Die „Jungfrau“ dagegen wird in makellosem Weiss und dank einer filigranen Verarbeitung zur Metapher der Unschuld und Reinheit schlechthin. 


„Wochenschürzen“ (2007)


Mittels sieben unterschiedlich eingefärbter Schürzen, die an dünnen Schnüren befestigt von der Decke hängen, und in deren Inneren die Künstlerin Mobiltelefone in der gleichen Machart deponiert hat, symbolisiert und verdeutlicht diese Reihe die Tüchtigkeit und Flexibilität der modernen Frau des 21. Jahrhunderts: stets erreichbar, emsig und unermüdlich an jedem Wochentag schafft sie ihr Werk in Haus und Garten. Die Schürze entzieht ihre dabei die Identität, denn über den Globus verteilt sind es Millionen von Frauen, die mit dem Anlegen dieser zweiten Haut zur Stereotype der „hard working woman“ werden. Zugleich verdeutlicht das Handy seine tiefgreifende Auswirkung auf das Frau-sein an sich. Provokant auf Höhe der weiblichen Geschlechtsorgane arrangiert, ist die Frau von heute eben nicht mehr nur innerhalb einer streng geschlossenen häuslichen Sphäre aktiv. Selbstverständlich und genauso engagiert stellt sie sich den Anforderungen der Berufswelt, in der sie von Flexibilität, Mobilität und Geschwindigkeit förmlich durchdrungen wird. 


„Unser täglich Brot“ (2008)


Ein Thema von globaler und aktueller Brisanz spricht die Künstlerin mit der Arbeit „Unser täglich Brot“ an. 12 Schürzen werden kreisförmig angeordnet, sie liegen halb auf dem Boden, halb hängen sie an dünnen, kaum sichtbaren Fäden von der Decke. Die schwarze Einfärbung, die sich zudem mit Brotkrümeln und Staub vermischt, transportiert ein universelles Thema: Armut, Hunger, Not. Bereits im Titel der Installation klingt dies an, ist er doch dem „Vater unser“ entlehnt, in dem es in der 6. Zeile heisst: „unser täglich Brot gib uns heute“. Was eine Selbstverständlichkeit für die zivilisierte, protegierte und saturierte Welt bedeutet, stellt Weigel schonungslos und geradezu manifesthaft zur Disposition. Weniger jedoch als Anklage so doch zumindest als Proklamation bewirkt allein die raumdominierende Größe der Arbeit, die in ihrer Anordnung und Zahl an die Flagge der Europäischen Union und damit an die Verantwortung dieser Länder gegenüber Benachteiligten und Unterprivilegierten erinnert, einen Denkanschub.


Ästhetik und Konzept


 

Indem die Künstlerin die Schürze ästhetisch verfremdet und mit ihr experimentiert, erhebt sie diese zum artifiziellen Kunstobjekt. An und mit ihr beleuchtet sie differenzierte Aspekte, indem sie die Sinnschichten der Schürze mittels neuer Technologien und in unterschiedlichen räumlichen und thematischen Kontexten auslotet und gleichsam exemplarisch auffächert. Die dem Auge des Betrachters durchaus schmeichelnde Formensprache, die bisweilen Assoziationen an das Vokabular des Jugendstils weckt, vor allem jedoch das Festhalten an der gegenständlichen Form, täuscht nicht darüber hinweg, dass die Künstlerin Prinzipielles im Sinn hat. Almyra Weigel beschäftigt sich mit Grundsätzlichem, mit Fragen des existentiellen Daseins im privaten wie im gesellschaftlichen Umfeld. Über die Schürze reflektiert die Künstlerin geschlechtsspezifische Überlegungen ebenso wie sie Fragen nach unserem zeitgenössischem Weltbild und Weltbezug aufwirft. Fragen, in denen es um den Balanceakt von Tradition und Moderne, um sein prekäres Verhältnis zueinander geht und letztlich um das Tasten und Suchen nach der eigenen schlüssigen Lebensform zwischen Intellektualität und Naturhaftigkeit. 



[1]   Ursprünglich ist diese Idee 1999 beim Kochen von Spaghetti entstanden. Frühe Objekte aus dieser Zeit weisen eine dementsprechend betont lineare Form auf, die sich erst Mitte 2000 zu der für Weigel typischen vegetativen Formensprache entwickeln.

[2]   Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 23. Aufl., Berlin 1995, S. 745.

 







  

Die Durchsichtigkeit des Verborgenen


von Thomas Weigel

 

Almyra Weigel (Bartkevičiūtė), Textilkunst-Dozentin und freischaffende Künstlerin, gehört zu jener Generation litauischer Textilkünstler, die sich von einer traditionellen Grundvorstellung über Textilkunst gelöst und für sich ein konzeptuelles Kunstverständnis angenommen haben. Doch auch dieses moderne Kunstverständnis kann traditionellen Formen und Inhalten verbunden bleiben und so ist Almyra Weigels Werk, das sie selbst als „experimentelle Textilkunst“ bezeichnet, geprägt von einem Wechselspiel von traditionell und neu, von archaisch und modern, von organisch und synthetisch.

In ihren Kunstwerken mit ihren zeitgenössischen Inhalten und Techniken schlägt sie eine Brücke hin zu einer künstlerischen, aber auch kulturellen und gesellschaftlichen Tradition deren überlieferte Formen, Inhalte und Stereotypen sie gleichzeitig aufnimmt, reflektiert und weiterentwickelt.  

Ihre Plastiken und Skulpturen möchten das Spannungsfeld aufzeigen, das da herrscht zwischen jenen althergebrachten kulturellen Stereotypen über gesellschaftliche Rollenverteilung, unserer individuellen Identität und den unablässigen äußeren Einflüssen auf die Entwicklung einer jeden Persönlichkeit.

Der Kern dieser Reflexion ist der menschliche Körper und die ihn umgebende Kleidung. Die Kleidung, die unseren Körper schützt, verhüllt, ihm kulturelle und geschlechtliche Identität verleihen will, wird in ihren Objekten durch ihre Durchsichtigkeit zum Medium, das den Blick lenkt auf das vermeintlich Verborgene der Identität, aber auch auf Kräfte und Einflüsse, die von außen auf sie einströmen und sie verändern.

Als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten „Wochenendschürzen“, „Täglich Brot“ und aus der Serie „Schürzen“: „Jungfrau“, „Friseuse“, „Hausfrau“  dient die Schürze der traditionellen, litauischen Tracht. Die Schürze stellt hier ein wichtiges Kleidungsstück mit großer symbolischer Bedeutung dar, da sie nicht nur den Körper der Frau, die die Schürze trägt, vor Schmutz, sondern auch ihre Seele vor den negativen Kräften und Einflüssen der Außenwelt schützt. Doch indem die Schürze das unter ihr verborgene von ihrer Umgebung abgrenzt, nimmt sie gleichzeitig die Außenwelt in sich auf und hat diese in sich gespeichert.

Geschaffen wurden diese Plastiken aus Strukturen, die durchsichtig und flexibel sind und an Häkelei erinnern, obwohl keine Garne verwendet wurden, nur Kleber, der sie imitiert. Die Durchlässigkeit der so entstandenen Oberflächen und die Materialien mit denen sie bedeckt sind, wollen jedoch nicht nur auf die fortwährenden Wechselwirkungen hinweisen, denen unsere Identität ausgesetzt ist; sie sollen auch den Blick lenken auf die Fragilität unseres Daseins.

So spricht zum Beispiel die Arbeit „Täglich Brot“ den Überfluß an, in dem wir leben, der es uns schwer macht, den Wert von Brot zu erkennen und der unübersehbare Spuren des Hungers bei anderen hinterläßt. Und diese Spuren durchdringen jede schützende Hülle: es sind Tritte auf die darunter verborgenen Seelen.

„Wochenendschürzen“ weist auf die allgegenwärtigen und weltweiten Kommunikationsformen hin, die heute ein zentraler Punkt unseres Lebensstils oder vielleicht sogar unser eigentlicher Lebensinhalt sind, auch wenn wir äußerlich an traditionellen Formen und Lebensweisen festhalten.

„Jungfrau“, „Friseuse“, „Hausfrau“ aus der Serie „Schürzen“ befassen sich mit weiblicher Identität und „reflektieren zielgerichtet die Stereotypen über die Wertung der Frau und der weiblichen Bestimmung in der Gesellschaft“ (Virginija Vitkiene, Kunstwissenschaftlerin).

Unaufhaltbar also strömt die Außenwelt mit all ihren einander auch widersprechenden Kräften, Einflüssen und Erwartungen auf die Identität des Menschen ein, die niemals eine Eindeutige war und auch nicht geschützt werden kann und soll; die Spuren und Veränderungen, die dies in uns hinterlässt, drängen wieder nach außen und verweben uns auf diesem Weg unentwirrbar mit der Welt. Das Streben nach Individualität, nach einer eigenen selbst bestimmten Identität erscheint so allenfalls als illusorische Träumerei. Jedoch ist es stets ein individuelles Schicksal, das sowohl den kulturell und geschlechtlich vorgegebenen Stereotypen über seine Identität als auch den fortwährenden Wechselwirkungen mit der Welt ausgeliefert ist.